Ein Grund für den Höhenflug von Marokko bei der Wüsten-WM in Katar, bedeutet die Heimspielatmosphäre. Bisher hatte das erste afrikanische Team, das bis ins Semifinale kam, bei jedem seinen fünf Spiele zigtausende Zuschauer im Rücken. So wird es auch Mittwochabend im Al Bayt-Stadion gegen Titelverteidiger Frankreich sein. 30 Sonderflüge kommen aus Marokko nach Doha, alle Araber sind für die Nordafrikaner, eigentlich steht der ganze Kontinent hinter der Mannschaft des 47 jährigen Teamchef Wahid Regragui (Bild oben), der vor 14 Jahren mit Frankreichs Torjäger Olivier Giroud für eine Monate zum Kader des französischen Aufsteigers Grenoble Foot gehört hatte. Von den 60.000 Zuschauern auf den Tribünen werden 50.000 für Marokko sein, die marokkanischen Trommler werden wieder nicht zu überhören sein.
Mit 241 Millionen Euro hat Marokko den mit Abstand geringsten Marktwert der vier Semifinalisten. Der Kader von Weltmeister Frankreich ist im Vergleich 1,03 Milliarden Euro wert. Aber das marokkanische Herz und die Leidenschaft setzten sich bisher durch. Viermal zu null spielte zuletzt bei einer Weltmeisterschaften Deutschland am Weg zum Titel vor acht Jahren in Brasilien. Auch die Effizienz ist ein Baustein zur WM-Sensation: Fünf Tore bei nur 43 Schüssen. Mit dem Vorstoß unter die letzten vier haben die Marokkaner schon drei Teamchefs ihrer gescheiterten Gegner am Gewissen: Roberto Martinez beendete seine Ära bei Belgien, Spanien trennte sich von Luis Enriqueund wie es aussieht, geht es auch für Fernando Santos bei Portugal nach acht Jahren nicht mehr weiter.
Von den Spielern in Marokkos WM-Aufgebot sind nur 12 in Marokko geboren. Vier in Belgien, je zwei in Spanien, Holland, Frankreich, je einer in Kanada (der herausragende Tormann Yassine Bono kam in Montreal auf die Welt) und Italien. Zu den „Holländern“ zählt Abräumer Sofyan Amrabat von Fiorentina, der bisher als einziger marokkanischer Spieler keine Minute verpasste, zu den „Franzosen“ Abwehrchef und Kapitän Romain Saiss, zu den Spaniern Rechtsverteidiger Achraf Hakimi. Sein Duell gegen Kylian Mbappe wird eines der entscheidenden sein: nur wenn es dem Verteidiger von Paris St.Germain gelingt, den Topstar des französischen Meisters so zu kontrollieren, wie England mit dem schnellen Kyle Walker und doppelter Absicherung, hat Marokko eine Chance. Regragui stammt aus Corbeil-Esonnes, südlich von Paris. Seine Mutter lebt noch immer dort, wird auf der Tribüne sitzen. So wie bereits beim Triumph gegen Portugal.
„Bisher fand noch keiner eine Lösung gegen die marokkanische Mauer“, warnte Frankreichs Weltmeister-Teamchef Didier Deschamps. Marokko dürfte alle Spieler an Bord haben, bei Frankreich konnten Dayot Upamecano, der Innenverteidiger mit Salzburg-Vergangenheit und Adrian Rabiot wegen Erkältungen am Dienstag nicht traineeen. Egal, wie das Spiel, das auch eine gesellschaftliche Brisanz hat, ausgeht: Deschamps wird in Frankreich wegen seiner Erfolge als Spieler und Trainer auf jeden Fall weiterhin vergöttert werden. „Er hat schon als Spieler die Mannschaft wie ein Trainer eingeteilt und geführt“, behauptete einer, des es wissen muss. Andreas Herzog spielte unter den Teamchefs Ernst Happel und Herbert Prohaska in der Qualifikation für die WM 1994 zweimal gegen Frankreich und Deschamps, verlor zweimal. Im Parc de Prince 0:2 ohne einen österreichischen Torschuss, in Wien 0:1: „Deschamps war damals ein Ungustl“, erinnert sich Herzog zurück. Er gab im „Sky-Poadcast“ zu, in seiner Meinung, dass sich Qualität immer gegen die Mentalität durchsetzt, bei dieser WM eines Besseren belehrt worden zu sein: „Es hat sich gezeigt, dass Mentalität Qualität schlagen kann, wenn es drauf ankommt. Das war bei Marokko gegen Portugal so.“
Einen großen Marokko-Fan wird es auch in Tirol geben. Denjenigen, der bei tipp3 vor WM-Beginn 500 Euro auf Weltmeister Marokko spielte. Da die Quote 200 betrug, könnte er 100.000 Euro kassieren.
Foto: FIFA.