Fußball

Meine elf Weltmeisterschaften: Auf der Alm von Florenz bremste der innere Gamsbart

Viel Beifall gab es nicht, als Josef Hickersberger knapp vor Weihnachten 1987 im Wiener Tabakmuseum von ÖFB-Präsident Beppo Mauhart als neuer Teamchef präsentiert wurde. Und nicht der populäre Rapid-Trainer Otto Baric. Nur wenige trauten dem U21-Chef  und Assistenten des erfolglosen Branko Elsner zu, gegen die  Sowjetunion, die DDR, Türkei und Island das WM-Ticket zu schaffen. Er entschied sich für Heribert Weber und gegen Bruno Pezzey als Abwehrchef, beendete so dessen Teamkarriere. Während der Qualifikation überredete Hickersberger Herbert Prohaska sogar zum Comeback für drei Spiele, die alle nicht verloren gingen: 3:2 gegen die Türkei in Wien, 1:1 in der DDR und 0:0 auf Island. Am denkwürdigen 15.November 1989 stand wenige Tage nach dem Fall der Berliner Mauer durch das  3:0 gegen die DDR im Wiener Prater fest: Österreich ist bei der WM 1990 in Italien dabei. Zuvor gab´s Morddrohungen gegen den Teamchef, weil der stets an Toni Polster festhielt. Und dann schoss der vor dem Match vom Großteil der 57.000 Zuschauern ausgepfiffene Sevilla-Torjäger Polster mit drei Toren die DDR im Alleingang k.o. Hickersberger redete im Triumph von Rücktritt, meinte es wäre besser, wenn Ernst Happel bei der WM der Teamchef wäre. Happels, drei Jahre zuvor von Swarovski-Chef Gernot Langes von Hamburg nach Innsbruck geholt, wollte nicht.

Somit blieb es bei Hickersberger. Der  bei Kapitän Weber Konsequenz zeigte: Der hatte vor dem 3:0 wegen einer Zahnarztbehandung mehrere Trainings ausgelassen, weshalb er nur Ersatz sein sollte. Er weigerte sich aber auf der Bank Platz zu nehmen, setzte sich lieber auf die Tribüne, sah dort, wie ihn der international unroutinierte Austrianer Ernst Aigner gut vertrat. . Der Teamchef, bestärkt von Happel, brachte kein Verständnis auf, daher fehlte Weber im Jänner im vorläufigen 40 Mann-Kader für die WM. In der Gruppe mit Veranstalter Italien, der Tschechoslowakei und den USA hielten alle den Aufstieg für möglich. Da zwei der drei Spiele in Florenz stattfinden, suchte Hickersberger ein Quartier in der Toskana und fand es oberhalb von Florenz: Das Hotel Paggeria im kleinen Örtchen Artimino, das für die WM-Zeit zur „Villa Austria“ umbenannt wurde. Für Hickersberger das beste Quartier aller WM-Teilnehmer. Die Vermarktung des Teams hatte einer übernommen, der später als Präsident von Sturm Graz Schlagzeilen in Serie lieferte: Hannes Kartnig.

Nach dem Krach um Weber reaktivierte er nicht Pezzey, was auf Grund dessen Leistungen beim FC Tirol naheliegend gewesen wäre. Alles Vertrauen in Aigner. Die Testergebnisse führten zu viel übertriebenen Optimismus: 0:0 in Ägypten, 3:2 nach 0:2 in Malaga gegen Spanien dank eines Supersolos von Gerhard Rodax, 1:1 gegen Weltmeister Argentinien in Wien und zum Abschuss 3:2 gegen Holland mit allen Stars wie Marco van Basten, Ruud Gullit, Frank Rijkaard, wobei Österreich nach 49 Minuten 3:0 führte. Erst vier Tage vor dem Abflug zur WM nach Pisa stand fest, dass Rodax ins Flugzeug stieg: Weil es vor dem Wiener Arbeitsgericht,bei dem er gegen seinen Klub Admira/Wacker um die Freigabe für Atletico Madrid kämpfte, einen Vergleich gab, Für 23 Millionen Schilling, damals in Österreich die Rekordtransfersumme, wechselte. Rodax nach Spanien.

Die Spieler zeigten sich vom WM-Quartier begeistert: „Das ist ja wie auf einer Alm“, fand der Salzburger Heimo Pfeifenberger. Die Zimmer der Spieler durften nicht fotografiert werden, das im riesigen Weinkeller neben der „Villa Austria“ eingerichtete Pressezentrum durfte nur bis 14 Uhr benutzt werden. Die Training im 15 Autominuten entfernten Ort Comeana bekamen Volksfestcharakter. Prohaska war auf Grund seiner Italien-Erfahrungen als Attache dabei und bei den internen Trainingsspielen wieder aktiv. Auffällig, dass dabei fast immer die Mannschaft mit ihm gewann. Fehlte nicht doch eine routinierte Führungspersönlichkeit in der im WM-Jahr ungeschlagenen Mannschaft, die Hickersberger drei Tage vor der ersten Spiel gegen Italien als „jung, ehrgeizig und zuversichtlich“charakterisierte.

Das Team, das vor 73.303 Zuschauern im ausverkauften Olympiastadion von Rom (Bild unten) ohne Rodax begann, wirkte speziell vor der Pause zu nervös, fast von Angst gebremst. Bis zwölf Minuten vor Schluss stand es 0:0, ehe der drei Minuten zuvor eingewechselte „Toto“ Schilacchi Italiens goldenes Tor köpfelte. Sein erster Treffer am Weg zum WM-Schützenkönig. Aber Toni Polster sagte mir im Kabinengang! „Kein  Beinbruch. Hab´ ka Angst schöner Bua, wir schaffen den Aufstieg trotzdem.“  Am Tag darauf Empfang der Wirtschaftskammer auf der Alm von Florenz. Die Berichterstatterin des“Kurier“ erschien im tief ausgeschnittenen roten Kleid. Offenbar um eindeutige Angebote von Spielern zu provozieren, eine Skandalstory liefern zu können. Die Angebote kamen nicht. Einige Sager am Mannschaftstisch blieben „intern“.

Fünf Tage nach dem 0:1 von Rom 25.000 Österreicher unter den 38.962 Zuschauern im Stadio Communale von Florenz. Bundeskanzler Franz Vranitzky kam fünf Stunden vor dem Anpfiff gegen die CSFR  auf Besuch ins Hotel,  Sportministerin Hilde Havlicek wohnte bereits zwei Tage bei der Mannschaft, drehte frühmorgens ihre Runden im Swimming Pool. Bewundernd beobachtet von den Spielern. Es gab vier Umstellungen: Toni „Rambo“ Pfeffer in die Abwehr, Manfred Zsak und der Tiroler Happel-Schüler Alfred Hörtnagl ins Mittelfeld, vorne Rodax statt Andi Ogris mit Kapitän Polster. Ein Unentschieden wäre beiden gleichermaßen dienlich gewesen. Die Tschechoslowaken hatten die Amerikaner zuvor 5:1 abgefertigt, Österreich erwartete auch einen Sieg über die Amis im letzten Spiel. Aber am Ende nur lange Gesichter bei Bundeskanzler, Fans und der Mannschaft: Zu wenig Bewegung, nur eine Torchance im ganzen Spiel, den Tschechoslowaken das goldene Tor durch einen missglückten Rückpass von Pfeffer, der zu einem Elfer führte, praktisch aufgelegt. Wieder Treffen mit Polster: „Wir haben alles falsch gemacht, schöner Bua“.

Die Aufstiegshoffnungen? Vier Tage später ein möglichst hoher Sieg gegen die USA und dann beten.  Hickersberger ließ mit Ogris, Rodax und Polster drei Spitzen beginnen. Aber nach 29 Minuten dezimierte der überforderte syrische Referee Al Sharif der insgesamt neun gelbe und eine rote Karte zeigte, Österreich durch den korrekten Ausschluss von Peter Artner. Hickersberger opferte zur Pause aus taktischen Gründen Polster für einen Mittelfeldspieler, ehe die Tore fielen: Ein Supersolo von Andi Ogris von der Mittellinie zum 1:0, eine der spektakulärsten Aktionen der ganzen Weltmeisterschaft. Dann noch Rodax, am Ende aber nur 2:1. Hans Krankl behauptete: „Vor der WM hätten wir diese Studententruppe noch weggeschnupft.“

Zwei Tage mussten die Spieler im TV-Zimmer der Alm zittern, ob sie zu den vier besten Dritten der ersten Finalrunde zählen, die aufsteigen. Am zweiten kamen die Tiefschläge: Uruguay schlug in der 93 Minute Südkorea durch ein Abseitstor 1:0. Ein ORF-Team hatte im TV-Zimmer schon Kameras aufgebaut, um den Jubel von Teamchef und Spielern über das 0:0 zu filmen. Da schrie plötzlich Hickersberger, der sich bis dahin als Glückspilz wähnte, fast panisch auf: „Draht´s das Licht ab.“ Der Nichtraucher versuchte sich mit einer Zigarillo zu beruhigen. Auf Uruguays spätes Tor, folgte ein langer Zug, er packte langsam seine Brille ein und sagte: „Das war´dann wohl.“ Kurz darauf übte er auf der Wiese Golfschläge. Die letzte Mini-Chance:Holland musste am Abend Irland schlagen, führte auch 1:0, aber es gab ein 1:1 und am Ende Rasenschach wie acht Jahre zuvor in Gijon zwischen Deutschland und Österreich. Sofort nach Schlusspfiff kam Hickersberger: „Wir können reden, es ist vorbei.“ Die Spieler und Betreuer versammle er knapp vor Mitternacht, bedankte sich bei allen. Heimflug am 22. Juni in der Überzeugung, dass auch das Glück fehlte

Zu dieser Zeit war Leopold Stastny 15 Jahre nach dem Ende seiner Teamchefära als Gast der von ihm initiierten Schülerliga in Österreich,. Als wir über „Italia 90“ redeten, kritisierte er: „Schon die zweite Weltmeisterschaft ohne etwa Neues.“ Im Urteil über Österreich nahm er eine Anleihe bei Herzmanovsky-Orlando: „Gar nicht so weit von der  Weltspitze entfernt. Aber die haben wie mit einem inneren Gamsbart gespielt, der bremste.“ Seinen ehemaligen Spieler Hickersberger nahm er in Schutz: „Von ihm hab´ich keinen Fehler gesehen.“ Drei Monate später kapitulierte Hickersberger: Nach der  0:1-Jahrhundertblamage gegen die Färöer-Inseln in Landskron, die Österreich zur Lachnummer der Fußballwelt machte. Viel schlimmer als das WM-Ausscheiden.

 

Die WM lieferte auch ohne Österreich genug Stoff. Etwa bei Deutschlands 2:1 über Holland in Mailand im Duell Inter-Legionäre (Lothar Matthäus, Andi Brehme, Jürgen Klinsmann) gegen Milan-Stars (van Basten, Gullit, Rijkaard). Rijkaard spuckte mehrmals Völler an, zur Überraschung sahen beide vom argentinischen Schiedsrichter Loustau Rot. Dann  meldete sich Rapid-Vizepräsident Skender Fani mit einer Sensation: Durch Kontakte zum Maradona-Management gelang es ihm, in Neapel Hugo Maradona, den jüngeren Bruder des berühmten Diego, leihweise zu verpflichten. Um ein Interview mit ihm zu bekommen, flog ich mit Fani und Hugo sogar von Rom nach Wien, um dann wieder zur WM zurückzukehren. Die Mühe war das nicht wert, denn der Maradona-Bruder  erwies sich als Riesenflop. Diego fiel in Florenz auf, als er bei Argentiniens Aufstieg gegen Jugoslawien durch ein 3:2 im Elferschießen seinen Penalty gegen Ex-Tirol-Torhüter Tomislav Ivkovic vergab, Teamchef der Jugoslawen: Ivica Osim, später der Trainerguru von Sturm Graz. Unter seinen Spielern: Dejan Savicevic, neun Jahre später der Star von Rapid. Österreichs Beitrag zur WM war ein Referee: Der Salzburger Helmut Kohl. Mit ihm zu plaudern, SchiedsrichterInterna zu hören, die man natürlich nicht schreiben durfte bedeutete ein Erlebnis. Er galt als Kandidat für das Endspiel. Aber nach dem Viertelfinale, dem 1:0 Deutschland über Österreich-Bezwinger CSFR in Mailand, nach dem ihn die italeinischen Medien wegen Gelb-Rot für den Tschechen Lubomir Moravcik kritisierten, kam nichts mehr.

Auch im Semifinale entschieden Elfmeterschießen. Mit jeweils 4:3 für Deutschland in Turin gegen England und am Tag zuvor in Neapel für Argentinien und gegen Italien. Nach 90 Minuten stad es in beiden Partien 1:1. Da brodelte der Vesuv! Schon davor. Weil Diego Maradona als Napolis Topstar seine zweite Heimat Neapel mit heißen Sprüchen aufhetzte: „Neapel liebt mich, Italien hat Neapel bisher nie geholfen“. Jeder Journalist war dankbar für diese Schagzeilen: „364 Tage un Jahr werden die Napolitaner nicht als Italiener betrachtet, sondern als Terroni. Jetzt sollen sie plötzlich zu Italien stehen.“ Terroni bedeutet Dreckfresser. Maradona verwandelte  den entscheidenden Elfer gegen Walter Zenga. Zuvor sah ich die längste Verlängerung der Geschichte, weil Frankreichs Referee Michael Vautrot neun Minuten nachspielen ließ, ehe es zum Elferschießen kam. Die Schlagzeile der Gazzetta dello Sport am Tag danach auf Seite eins: Italia, Noooo!

Die Rechnung bekam Maradona im Finale von Rom präsentiert: Ein Pfeifkonzert übertönte Argentiniens Hymne, Maradonas Schimpfworte waren groß auf der Vidiwall zu sehen. Die ersatzgeschwächten Titelverteidiger lieferten nur ein Rückzugsgefecht, auch weil ihr Topstar vom kantigen Schwaben Guido Buchwald neutralisiert wurde. Aber erst ein Elfergeschenk des Mexikaners Edgardo Codesal sorgte fünf Minuten vor Schluss für Deutschlands WM-Titel. Nachher höhnische „Diego, Diego, ha, ha, ha“-Sprechchöre aus der deutschen Fankurve, auf der Anzeigetafel gnadenlos der weinende Maradona in Großaufnahme. Italien nahm Rache, bis sich Teamchef Carlos Bilardo und Tormann Sergi Goycochea vor ihn stellten, damit ihn die Kameras nicht mehr erfassen konnten. Deutschland jubelte euphorisch (Bild unten), die Krönung für Teamchef Franz Beckenbauer, dessen Rücktritt feststand. Er ging zunächst gedankenverloren über den Rasen des Olympiastadions, ehe er noch vor der Feier in der „Villa Borghesiana“, die bis in den Morgen dauerte, feststellte: „Jetzt kommen auch die Spieler aus der DDR dazu, wir werden auf Jahre unbezwingbar sein.“ Auch Kaiser können irren.

 

Foto: © FIFA (Getty Images).

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