Russlands Sommermärchen ist perfekt. Erstmals bei der WM in der K.o.-Phase und jetzt sogar unter den letzten acht! Rund 70.000 russische Fans unter den 78.000 Zuschauern im Luschniki-Stadion flippten völlig aus, als im Moskauer Gewitterregen die Überraschung gegen Spanien im Elfmeterschießen fixiert wurde, der Weltmeister von 2010 nach einem 1:1 (1:1, 1:1) über 120 Minuten mit 4:3 geschlagen, damit das Favoritensterben fortgesetzt wurde. Sie feierten ihre Tormannhelden: Den 32jährigen Igor Akinfeew und einen seiner Vorgänger, der jetzt Teamchef ist, Stanislaw Tschertschessow. Kein Zufall, dass sich Tschertschessow nach dem Happy End und kurzen Jubelgesten mit erohebenen Händen, einen Weg zu Akinfeew bahnte, ihn umarmte. Denn er stand zu ihm als er vor zwei Jahren Teamchef wurde. Akinfeew galt nach dem miesen Abschneiden bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich als ablösereif, doch Tschertschessow machte ihn sogar zum Kapitän. Akinfeew hatte ein bewegtes Vorleben: 2010 stand er bei Bayern München als Nachfolger von Oliver Kahn zur Debatte, doch Bayern wollte nicht die von ZSKA Moskau geforderte 20 Millionen Euro Ablöse zahlen. 2014 patzte er bei der Weltmeisterschaft in Brasilien zunächst gegen Südkorea, geblendet von einem Laserlicht. Dann auch noch gegen Algerien. Diese zwei Fehler führten zu Russlands Ausscheiden nach der Vorrunde. 2015 traf ihn beim Qualifikationsspiel zur Europameisterschaft in der Österreich-Gruppe beim Spiel gegen Montenegro in Podgorica eine Leuchtrakete – daher Abbruch. Sonntag erlebte er das Highlight seiner Karriere. Ebenso Tschertschessow. Umgelegt auf seine frühere Tätigkeit als Trainer bei Wacker Innsbruck würde das bedeuten: Die Tiroler werden Meister, schaffen den Sprung in die Gruppenphase der Champions League.
Tschertschessows Defensivkonzept gegen die auf fast allen Positionen individuell besser besetzten Spanier ging auf. Erstmals bei der WM drei Innenverteidiger, damit Fünferabwehr. Der bisher beste Torschütze, Spanien-Legionär Denis Cherytschew, bis zur 61. Minute auf der Bank. Das Pech mit dem Eigentor des 38jährigen Oldies Sergej Ignatowich führte nicht dazu, das Tschertschessow die Marschroute ändern. Russland ließ sich nicht durch den ständigen Ballbesitz der Spanier herauslocken, kam vor der Pause zum Ausgleich, als Gerard Pique bei einem Luftkampf gegen Artyom Dzyuba die Hand so weit oben hatte, wo sie nichts zu suchen hat. Daher Elfer, den Dzyuba verwandelte. In der zweiten Hälfte kam Russland trotz mehr als 70 Prozent Ballbesitz der Spanier nicht entscheidend in Gefahr, auch nicht im Nachspiel. Obwohl es nachher keiner zugab, war das Elferschießen das russische Ziel. Dafür liefen die Spieler sieben Kilometer mehr als die Spanier. Einige hatten bereits im Finish der regulären Spielzeit Krämpfe. Im Penaltythriller kam die große Stunde von Akinfeew, dem Oliver Kahn, der vor Anpfiff aus Baden-Baden, aus dem ZDF-Studio ein Spiel gewünscht hatte, bei dem er sich auszeichnen konnte. Es kam.
Akinfeew hielt zunächst den dritten Elfer der Spanier von Atletico Madrids Mittelfeldmotor Koke, dann auch den letzten von Iago Aspas, dessen Tor gegen Marokko Spanien zum glücklichen Gruppensieger gemacht hatte. Der zielte scharf in die Mitte, Akinfeew war bereits unterwegs in die von ihm aus gesehen rechte Ecke, brachte aber irgendwie noch den linken Fuß zum Ball. Abgewehrt, sensationell. Russland im Glückstaumel: „Wir hatten einen Plan, den wir unter Aufbietung aller Kräfte einhielten. Mit einem anderen Konzept hätten wir vielleicht verloren“ , sagte Tschertschessow zu seinem persönlichen Triumph. 2018 galt er bis zur WM als Synonym für Erfolgslosigkeit,ohne einen Sieg, jetzt feiern ihn alles Nationalheld, der cool blieb: „Ich glaube, dass dies erst der Anfang ist. Daher muss ich mir meine Emotionen noch aufsparen!“ Typisch „Stani“.
Entsetzten hingegen bei Spaniens König Felipe in der Ehrenloge. Es war bereits das zehnte Duell, in dem Spanien bei Europa-oder Weltmeisterschaften am Veranstalter scheiterte. Zudem die erste Niederlage seit dem Scheitern im EM-Viertelfinale gegen Italien vor zwei Jahren in Paris. Und die befeuerte die Diskussionen, ob es gescheit war, zwei Tage vor WM-Start Julen Lopetegui als Teamchef zu feuern, weil er bei Real Madrid zugesagt hatte. Nachfolger Fernando Hierro ging vor dem Achtelfinale sozusagen in die Revolution, ersetzte mit der Ikone Andres Iniesta den ältesten Spieler durch den jüngsten, den 22jährigen Marco Asensio. Iniesta kam nach einer Stunde, konnte aber bis auf wenige Szenen auch nicht mehr Gefährlichkeit in der Dauerüberlegenheit sorgen. Nach dem Ausscheiden verkündete Iniesta das Ende seiner Teamkarriere.
Ein 1:1 nach 120 Minuten und ein Elfmeterschießen gab es auch in Nischni Nowgorod zwischen Kroatien und Dänemark, bei dem Kroatien viel von seinem Glanz in der Vorrunde verlor. Zwei Treffer in den ersten vier Minuten fielen zuvor noch bei keine WM-Spiel Kroatien konnte das schnellste WM-Tor durch Dänemarks Innenverteidiger Mathias Jörgensen durch Mario Mandzukic zwar rasch egalisieren, aber damit hatte es sich. Kein guter Tag für Kapitän Luka Modric, der im Nachspiel nach 116 Minuten einen Elfmeter Dänemarks Keeper Kaspar Schmeichel fast in die Hände schob, worauf dessen stolzer Vater Peter auf der Tribüne erstmals faktisch in Ekstase geriet. Im Penaltyschießen noch zweimal, denn Schmeichel hielt zwei. Kroatiens Tormann Danijel Subasic aber einen mehr, nämlich drei. Daher gewann Kroatien das Elferschießen 3:2, wobei Barcelona-Star Ivan Rakitic den letzten verwertete. Modric zeigte zuvor nur wenige Minuten nach seinem Missgeschick Charakter, Mut und gute Nerven, trat nochmals an, traf mit Glück, konnte am Ende auch jubeln (Bild oben). Samstag folgt in Sotschi das Viertelfinale der Elferhelden: Russland gegen Kroatien oder Akinfeew gegen Subasic.