Über Weihnachten schöpft der russische Teamchef ein halbes Jahr vor der Heim-WM in Tirol Kraft. Bei Stanislaw Tscherteschssow kein Wunder: Von 1996 bis 2002 stand der jetzt 54jährige im Tor des FC Tirol Wacker Innsbruck, wurde zwischen 1999 und 2001 dreimal unter Kurt Jara und Jogi Löw Meister. Später war er in Tirol Trainer beim FC Kufstein und Wacker Innsbruck, ehe er nach Russland zurückkehrte. In Rinn oberhalb von Innbruck hat Tschrtschessow noch immer ein ständiges Domizil, in dem Frau und Tochter wohnen. Dort traf er rund um die Feiertage alte Freunde wie Ralph Schader, die Innsbruck-Stimme zu Erfolgszeiten (Bild oben). Auf die Kraft aus den Tiroler Bergen setzt Tscheretschessow auch bei der WM-Vorbereitung: Trainingscamp im Stubaital, in Neustift. Wie vor dem Confed-Cup im letzten Sommer. Da hilft Schader: „Die Mannschaft hat sich dort wohl gefühlt, also kommen wir wieder“, meinte Tschertschessow, „warum auch nicht?“ Was noch streng geheime Kommandosache ist: Am Mittwoch, den 30. Mai, wird Russland am Insnbrucker Tivoli Neu, Tschertschessows früherer Wirkungsstätte, einen WM-Test gegen Österreich bestreiten. Für Francos Fodas Team die perfekte Vorbereitung auf den Hammer gegen Weltmeister Deutschland, am Samstag darauf im Klagenfurter Wörthersee-Stadion.
Teamchef in Russland, für Tschertschssow ein interessanter Job, eine große Herausforderung. Nach dem Abschied aus der Wahlheimat Tirol trainierte er Spartak Moskau mit Martin Stranzl, Sotschi, Terek Grosny, Amkar Perm, Dynamo Moskau und Legia Warschau. In Polen war er der Meistermacher. Also ereilte ihn nach Russlands Debakel bei der EURO 2016 in Frankreich unter Leonid Sluzki der Ruf aus der Heimat. Tschertschessow zögerte nicht lange: „Wir haben ziemlich viel verändert, junge Spieler forciert. Die haben sich gut entwickelt.“ Von seinem eingeschlagenen Weg ließ er sich trotz des verpassten Aufstiegs beim Confed-Cup, der WM-Generalprobe, mit nur einem Sieg (2:0 gegen Neuseeland) und zwei Niederlagen (0:1 gegen Portugal, 1:2 gegen Mexiko) nicht abbringen. Jetzt heißt es für ihn in Tirol seine Akkus für die nächsten Monate aufladen, um die Erwartungen zu erfüllen. Die heißen nicht WM-Titel wie für Deutschland (2006) und Brasilien (2014) bei ihren Weltmeisterschaften: „Die russischen Fans wollen eine gut vorbereitete, schlagkräftige Mannschaft sehen, die aggressiv spielt, dagegen hält. Favorits gibt es schon so viele. Es kommt, was kommt.“ Wie früher zwischen den Pfosten, scheint Tschertschessow die Ruhe in Person zu sein.
Zuerst Saudi-Arabien in Moskau beim Eröffnungsspiel der WM, dann Ägypten in St. Petersburg und Uruguay in Samara, das ist das lösbare Vorrundenprogramm für die Veranstalter. Die Pessimisten, die ein Debakel bei der Heim-WM prophezeie, irritieren Tschertschessow, der 49 Länderspiele für Russland absolvierte, wenig. Ebenso wie Behauptungen, die Russen würden sich nicht mehr mit ihrer Nationalelf identifizieren. Auch die oft kritisierten Problemzonen sieht er nicht so. Etwa, dass sein Kapitän, Tormann Igor Akinfejew, zwischen Genie und Wahnsinn wandelt. Dass die Innenverteidigung um Witkor Wasin und Teamchefliebling Alexander Samedow höheren Ansprüchen nicht genügt. Links verteidigt übrigens ein ehemaliger Schützling von Peter Stöger beim 1.FC Köln, Konstantin Rausch. Im Mittelfeld kann Tschertschessow zwischen Routiniers wie Alan Dsagojew und Denis Gluschakow sowie Talenten wie Alexander Golowin wählen, bietet sich auch der 28jährige Senkrechtstarter Alex Jerochin von Zenit St. Petersburg an.
Die Hoffnungsträger spielen ganz vorne: Fjodor Smolow vom FK Krasnodar, zweimal hintereinander Torschützenkönig, und Alexander Kokorin nach der besten Saison seiner Karriere. Jahrelang litt sein großes Talent unter seinem Lebensstil. Jetzt gab es einen kleinen Rückfall in wilde Zeiten: Auf der Hochzeit von Zenit-Mitspieler Alan Chochiev erschien er mit Pistole, Postete dies auch noch mit dem Kommentar „nichts besonderes, eine normale Hochzeit in Ossetien“. Die WM-Mission als russisches Roulette? Der Wahl-Tiroler Tschertschessow ist der Garant dafür, dass es nicht so weit kommt.