Fußball

Es gewinnt nicht immer der haushohe Favorit

Die Unter 21-Europameisterschaft in Italien steckt voller Überraschungen. Wer hätte gedacht, das Polen mit dem ehemaligen TV-Kommentator Czeslaw Michniewicz als Teamchef Belgien und Italien bezwingt? Keiner hätte erwartet, dass England nach zwei Spielen keinen Punkt hat, Rumänien hingegen sechs. Bis zur 75.Minute stand es Freitag in Cesena 0:0. Kurz vor der Führung der Rumänen tauschte Teamchef Mirel Radoi Rapid-Flop Andrij Ivan, der zuvor die Stange traf, gegen Florinel Coman vom FCSB Bukarest aus. Der hatte letzten August im Play-off zur Europa League gegen Rapid gespielt. In der 87.Minute glich England zum 2:2 aus, dann traf aber Ivan-Nachfolger Coman noch zweimal. Unter gütiger Mithilfe von Sheffield-Tormann Dean Henderson.

Noch überraschender wäre es, sollte Österreich Sonntag Abend im Stadio Friauli gegen Deutschland nicht verlieren. Zwar bedeutet nur ein Sieg über den Titelverteidiger mit drei Toren Differenz fix den Aufstieg ins Semifinale, egal wie Dänemark zur gleichen Zeit in Triest gegen Serbien spielt. Aber die Gedanken daran sind Träumereien. Auf einen neues Cordoba im Kanaltal zu hoffen, ist zwar nett, aber ziemlich weit von der Realität entfernt. Wundert fast sehr, dass noch keiner daran dachte, Cordoba-Held Hans Krankl 31 Jahre später aus seinem unweit entfernten Urlaubsdomizil Jesolo zu seinem Freund Werner Gregoritsch nach Udine zu bitten. Zur moralischen Unterstützung. Wäre eine nette Geste aber auch nicht mehr. Die Wahrheit: Selbst eine Topleistung wie beim 2:0 gegen Serbien kann gegen den deutschen Titelverteidiger zu wenig sein.

„Das ist die bisher beste und überzeugendste Mannschaft in der Europameisterschaft“, sagt Gregoritsch zum dritten Gegner, kündigte frisches Personal an. Die Quoten bei tipp 3 sagen genug über den krassen Außenseiterstatus von rot-weiß-rot aus; 5,00 für die Sensation, 4,50 für ein Unentschieden, 1,45 für einen deutschen Sieg,  Obwohl Gregoritsch plant, frische Kräfte zu bringen, werden zwei zum dritten Mal in der Startformation stehen: Kapitän Philipp Lienhart und Abwehrchef Kevin Danso. Sie kennen Deutschlands stärkste Offensivwaffen bis ins letzte Detail: Lienhart spielt mit Luca Waldschmidt (Bild oben, Nummer 10) bei Freiburg, Danso mit Marco Richter bei Augsburg. Vier Tore erzielt bisher Waldschmidt, drei Richter. Der schlug Österreich-Bezwinger Dänemark mit den ersten zwei Toren und einem Assists beim 3:1 fast im Alleingang. Ihn zeichnet ein Torinstinkt und ein Körper wie ein Kunstwerk aus. Voll mit Tattoos. Das auffälligste: Im Nacken ein Engelsflügel mit Kreuz. Ein ähnliches hat Real Madrids Kapitän Sergio Ramos, der eigentlich Lienharts Vorbild ist.

Als sechsjähriger spielte Richter noch im Innviertel bei Ried, dann fiel er bei einem „Schnuppertag“ in München den Bayern-Talentespähern auf. Mit 14 wechselte er dann nach Augsburg: „Ein Instinktfußballer, der sehr gut dribbelt“, weiß Danso über seinen Zimmerpartner bei Augsburg. In der Augsburger Offensiv-Hierarchie kommt Richter aber hinter Michael Gregoritsch, dem Sohn von Österreichs Teamchef. Richter kam heuer auf 25 Einsätze in der Bundesliga mit vier Toren und sechs Assists, Gregoritsch bei 32 auf sechs Treffer und zwei Vorlagen. Für Richters Teamchef Stefan Kuntz am beeindruckendsten: Dessen körperliche Fitness und sein Selbstvertrauen. Der Marktwert liegt bei sieben Millionen Euro.

Um fünf Millionen mehr beträgt er bei Lockenkopf Waldschmidt, der sich bei der EM zum Superknipser entwickelte. Ein Tor gegen die Dänen, ein Dreierpack beim 6:1 gegen Serbien zum 2:0, 3:0 nach einem Solo über den halben Platz und 5:0. Freiburg ist bereits seine dritte Bundesligastation nach Eintracht Frankfurt und dem Hamburger SV, wo er beim Abstieg dabei war. Unter Freiburgs Trainer-Urgestein Christian Streich machte er als Persönlichkeit einen Schritt vorwärts. Ähnliches gilt auch für Lienhart, der sich über Waldschmidts Rolle wunderte: „Bei Freiburg spielte er etwas zurückgezogen, bei der Europameisterschaft ganz vorne.“ Egal, sie werden es miteinander zu tun bekommen, es wird verbissene Freiburg-Duelle geben: „Luca hat brutale Qualität“, weiß Österreichs Kapitäns. Es könnte auch zu internen Duellen von Werder Bremen zwischen Marco Friedl und dem deutschen Mittelfeldspieler  Max Eggenstein, dessen Bruder Johannes bisher auf der Bank blieb, kommen. Und von Hoffenheim:  Bei Österreich Stefan Posch und Christoph Baumgartner, bei Deutschland  Nadiem Amiri, der bisher zweimal als Joker zum Zug kam.

Weitere herausragende Spieler Deutschlands: Kapitän und Abwehrchef Jonathan Tah, der seit 2016 zwischen Nationalmannschaft und U 21 pendelt, bei Leverkusen meist vor Aleksandar Dragovic dran kommt, Mitspieler von Österreichs Teamkapitän Julian Baumgartlinger ist. Im Mittelfeld Mahmoud Dahoud (Bild oben, Nummer 8), der schon vor zwei Jahren mit 21 beim Titelgewinn dabei war. Der in Syrien geborene Dahoud hat bei Borussia Dortmunds hochkarätiger Konkurrenz  einen schweren Stand, kam schon im Frühjahr 2018 bei Peter Stöger wenig zum Zug. Bei dessen Nachfolger Lucien Favre noch weniger. Eine besondere Geschichte gibt es auch zu Levin Öztunali: Er ist der Enkel der deutschen Fußballikone „Uns Uwe“Seeler.

„Zum Glück gewinnt nicht immer der haushohe Favorit“, stellte Österreichs Mittelfeldmotor Xaver Schlager fest, „uns bleiben 90 Minuten Zeit, das zu beweisen.“ Irgendwie schien das auch Kuntz im Hinterkopf zu haben, dem es gar nicht gefiel, dass alle Deutschland schon sicher im Semifinale sehen. Daher warnte der Teamchef Samstag Nachmittag bei der Pressekonferenz im Stadio Friuli: „Wenn wir das noch verdaddeln, dann wickelte man in alle wunderschönen Schlagzeilen der letzten Woche rasch den Fisch ein!“ Er hätte nichts dagegen, zum dritten Mal in der Kabine nachher den „Ballerman-Hit“ vom Bierkapitän zu hören. Zwar nicht sein Musikgeschmack, aber der von Richter und Waldschmidt.

 

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