Noch nie zuvor präsentierte sich Deutschland als so offenes und freundliches Land wie zur WM 2006. Österreich hatte keine Chance, sich zu qualifizieren. Dafür waren England und Polen in der Qualifikation zu gut. Das kostete Hans Krankl vor den letzten zwei Spielen den Teamchefjob. Krankls ehemaliger Mitspieler bei Rapid, Zlatko Kranjcar, war hingegen als Teamchef von Kroatien vertreten. Und bei der Ukraine die Legende Oleg Blochin, 18 Jahre zuvor sensationell Legionär bei Vorwärts Steyr. Der mit der Prognose, er würde seine Spieler persönlich zu ihren Frauen und Freundinnen bringen, wenn sie das Halbfinale erreichen, aufhorchen ließ. Oder sogar zerren, wenn welche das nicht wollen. Bei Deutschland hatten Jürgen Klinsmann und Jogi Löw das sportliche Sagen. Ihre Ära hatte 661 Tage vor der Münchener WM-Eröffnung gegen Costa Rica mit dem 3:1 über Österreich zum Jubiläumsspiel 100 Jahre ÖFB am 18.August 2004 im Wiener Happel-Stadion begonnen. Fünf Monate war Löw bei Austria als Tabellenführer von Boss Frank Stronach entlassen worden. Vier Jahre später galt er als „Taktikhirn“ hinter Motivator Klinsmann.
In Bad Wiessee, einem Kurort am Tegernsee vor den Toren Münchens, war ein Hinweisschild mit der Aufschrift „ÖFB-Fußballbotschaft, Landhaus am Stein“ nicht zu übersehen Das hatte der ÖFB bis zum Semifinale gemietet, empfing dort prominente Gäste wie WM-Macher Franz Beckenbauer, Bayern-Manager Uli Hoeneß, machte Werbung für die EURO 2008 in der Schweiz und Österreich, Auf Schloss Aufhausen bei Erding überreichte Österreichs Innenministerin Lise Prokop dem deutschen Verbandspräsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder das Große Ehrenzeichen der Republik als Dank für die deutsche Hilfe bei der erfolgreichen EURO-Kandidatur. Mayer-Vorfelder erzählte gerührt Schmankerl von seinen österreichischen Lieblingen Buffi Ettmayer, Roland Hattenberger und Franz Wohlfahrt während seiner Präsidentenzeit beim VfB Stuttgart. Am Tag danach konnte sich Mayer-Vorfelder über Deutschlands 4:2 in der Eröffnung gegen Costa Rica ohne den verletzten Kapitän Michael Ballack freuen. Löw gingen in der Mixed-Zone nachher die vielen Fragen nach Abwehrschwächen und missglückter Abseitsfalle so auf den Geist, dass er sich ein Mikrofon schnappte und rief: „Ach Leute, seid doch froh, dass bei einer WM-Eröffnung Tore fielen und nicht wie sonst Langeweile herrschte.“
Das Zentralstation von Leipzig sah von außen noch so wie 1977 und 1988 zu Zeiten der DDR aus, als dort Österreich ein 1:1 am Weg zu den WM-Tickets in Argentinien und Italien erkämpfte. Damals noch bei einem Fassungsraum von 100.000 Zuscahuern, 2006, als noch nicht die Red Bull-Zeiten in Leipzig begonnen hatten, nur mehr mit 39.500. Dort schlug Holland durch ein Tor von Arjen Robben Serbien ohne zu überzeugenden 1:0. Nachher hörte ich Andi Herzog, damals Assistent von Teamchef Josef Hickesberger für die EURO 2008 sagen: „Ohne Robben hätten sie heute nicht einmal Österreich geschlagen.“ Der Versuch mit Blochin in Potsdam, wo die Ukraine wohnte, ins Gespräch zu kommen, endete debakolös: Deutsch wollte der Ex-Steyr-Legionär nicht mehr verstehen, vom Training ließ er Journalisten aussperren. Der frühere Weltklassetorjäger zeigte immer die Hackordnung: Zuerst er, dann lange nichts, dann erst Topstar Schewtschenko. Aber auch er bekam den Maulkorb umgehängt, den Blochin allen Spielern bis zum Start, der mit 0:4 gegen Spanien total daneben ging, umhängte. Relativ zufrieden regierte hingegen Kroatien auf das 0:1 gegen Brasilien in Berlin: „Der Beifall von den Rängen zeigte, dass unsere Leistung stimmte“, zog er noch lange am Abend mit Frau und Bekannten aus Wien in der Halle des Westin-Grand Hotels Bilanz. Das Ausscheiden des verletzten Kapitäns Niko Kovac kostete Ordnung im Mittelfeld, vielleicht einen Punkt. trotzdem nahm sich Kovac Zeit über seine Zukunft in Salzburg zu plaudern. Wegen des Kunstrasen, der damals im Salzburger Stadion lag, hatte er keine Bedenken: „Ich bin in Berlin aufgewachsen, spielte im Nachwuchs fast nur auf Kunstrasen, bin sogar ein Kunstrasenspezialist.“ Ein kleines Problem hatte Herzog in Berlin: Vor Schwedens 1:0 gegen Paraguay musste er die letzten zwei Kilometer zum Olympiastadion wegen des Verkehrschaos inmitten der schwedischen Fans gehen. Da wurde ihm etwas mulmig. Dafür hielt er sich nachher als Gast von Coca Cola in einer Skybox schadlos: „Ich hab mehr gegessen als in den letzten drei Tagen zusammen“, berichtete er lachend, Deutschlands Verteidiger Philipp Lahm , damals als Superzwerg gefeiert, verriet, dass er mit seinem Musik-Mini-Computer am liebsten Austria-Pop hört. STS und besonders das „Schifoan“ von Wolfgang Ambros.
Mario Kempes traf ich im Pressezentrum als Kommentator des amerikanischen Sportkanals ESPN wieder. Seit seinen Zeiten in Österreich bei Vienna, St. Pölten und Krems hatte sich der WM-Torschützenkönig von 1978 stark verändert: Mit kurzen Haaren statt den langen, dem Markenzeichen als Weltklasse-Stürmer, war er gewöhnungsbedürftig, anfangs nur schwer zu erkennen. Deutschland sorgte mit dem 3:0 über Ecuador, den besten WM-Start seit 36 Jahren, dem neuen Mut zur Offensiv.Mentalität in Berlin für Jubel, Trubel, Heiterkeit bei 72.000 Fans: „Wir haben Großes vor“, verkündeten Klinsmann und Löw, „in der k.o.-Phase heißt es nur noch friss oder stirb.“ Drei Tage später wäre ich an gleicher Stelle fast eingeschlafen: Der Grottenkick zwischen der Ukraine und Tunesien lud dazu ein. Am besten war die Kulisse mit wieder 72.000 Zuschauern. Aber Blochin kam dank Elfergeschenk mit 1:0 ins Achtelfinale.
Auch Italien hatte die k.o.-Phase geschafft. Aber mitten in den Aufstiegsjubel kamen die schlechten Nachrichten aus der Heimat in Sachen Manipulationsskandal: Anklagen gegen Juventus, Milan, Fiorentina und Lazio sowie 26 Personen. Auch Teamchef Marcello Lippi sollte verwickelt sein, auf alle Fragen danach knurrte er mit mürrischem Blick: „No parla.“ Er redete nicht, behauptete nur, keiner denke daran. Obwohl 13 seiner Spieler von diesen Klubs kamen. Journalisten aus Italien erzählten, in Lippis Heimatort Viareggio ankere bereits seine Flucht-Yacht, mit der er bei Bedarf auf einige Zeit „verschwinden“ kann. Ein besonderes Erlebnis war das Südamerikaduell Argentinien-Mexiko im Achtelfinale: Anpfiff am Samstag, Pressekonferenz nach Argentiniens 2:1 nach Verlängerung erst Sonntag, 16 Minuten nach Mitternacht. Wer um rund drei Uhr früh wieder in Berlin, merkte, dass der ganze Wahnsinn erst richtig los ging. Noch immer Autokorso mit Hupkonzert am Kurfürstendamm, weil Deutschland in München Schweden 2:0 eliminierte. Berlin freute sich bereits auf das Viertelfinale Deutschland-Argentinien.
Man traf rundum die Spiele immer wieder Leute, die man aus Österreich kannte. In seiner Heimatstadt Köln den ehemaligen Austria-Trainer Christoph Daum, der fassungslos mitverfolgte wie die Schweiz, zuvor Gruppensieger ohne Gegentor, nach einem 0:0 das Elferschießen gegen die Ukraine verlor. Die ersten drei vergeben., damit ausgeschieden, ohne in vier Partien aus dem Spiel heraus ein Tor kassiert zu haben. Ganz bitter. Daum fragte: „Warum haben die Schweizer nichts von dem gemacht, was sie bisher stark machte?“ Der Schweizer Verbandschef Ralph Zlozower reagierte mit einem spontanen Ausruf, für den er bekannt war, wenn etwas unerwartetes passierte: „Ja, da krieg ich die Vögel!“ Blochin war vor dem Elferschießen in die Kabine geflüchtet, kam danach weinend zurück. Auf der Tribüne jubelte Boxweltmeister Wladimir Klitschko mit Stabhochsprung-Weltrekordler Sergej Bubka.
Löw beging vor dem Viertelfinale eine Todsünde, die „Bild“ gnadenlos aufdeckte: Er trug ein Polo-Hemd mit der Aufschrift „Republica Argentina“. WM-Macher Franz Beckenbauer überkam neun Tage vor WM-Ende angesichts der Superstimmung die Wehmut: „Es könnt schon noch dauern. Die Atmosphäre ist großartig. So stellt sich der liebe Gott die Fußball-Welt vor.“ Dazu gehörte auch die Auferstehung von Zinedine Zidane: Es war klar, dass er mit Frankreichs letztem WM-Spiel seine Karriere beendet. Da man dies schon im Achtelfinale gegen Spanien befürchtete, bemühten sich Beckenbauer, Michel Platini, Deutschlands Ex-Kanzler Gerhard Schröder, Arsenal-Trainer Arsene Wenger und Diego Maradona nach Hannover. Doch es folgte „Zizous“ Auferstehung bei Frankreichs 3:1 mit einem Assist zum 2:1 und dem Tor zum Endstand. Alles in den letzten sieben Minuten. So im Mittelpunkt war er seit seiner Gala im WM-Finale 1998 nicht mehr gestanden.
Im Viertelfinale gab´s täglich einen Elferthriller: Zunächst in Berlin bei Deutschland-Argentinien mit dem unglaublichen Zettel-Happy End um Tormann Jens Lehmann. Deutschland war der Ausgleich zum 1:1 erst in der 80. Minute gelungen, danach fiel kein Tor mehr. Man sah, wie vor dem Elferschießen Lehmann von Tormanntrainer Andi Köpke einen Zettel bekam, den er in seinen rechte Stutzen steckte, ehe ihm Oliver Kahn alles Gute wünschte. Als das Bild auf der Vidiwall zu sehen war, brandete Beifall auf. Kahn hatte die Degradierung zur Nummer zwei nicht verstanden, das Verhältnis zwischen den Keepern war nicht das beste. Die Geschichte mit dem Zettel kann Lehmann auch zwölf Jahre später bis ins letzte Detail schildern: In der Früh ging er mit Köpke in der Hotellobby die möglichen argentinischen Schützen durch. Köpke schrieb sie auf, holte Informationen ein. Via Computer von der Datenbank von Huub Stevens, des ehemaligen Schalke-Trainers. Vor jedem Penalty für die Südamerikaner blickte Lehmann auf den Zettel. Auch vor dem zweiten. Da entschied er sich jedoch nicht in die Ecke, zu springe, die am Zettel als bevozugte von Roberto Ayala stand, sondern in die andere. Passte perfekt. Lehmann hielt. Der vierte argentinische Elferschütze Esteban Cambiasso stand gar nicht am Zettel. Lehmann erinnerte sich nur an einen Freistoß des Inter Mailand-Stars, hielt aber den Penalty. Da Deutschland die ersten vier verwandelte, war das der Aufstieg. Riesenjubel um die deutschen Hand Gottes 20 Jahre nach Maradona. Lehmann zerknüllte in der Kabine den Zettel, warf ihn auf den Boden, überlegte es sich anders, hob ihn auf, glättete ihn so gut es ging, behielt ihn. Später wurde er für eine Million Euro zu Gunsten von „ein Herz für Kinder“ versteigert, dem Haus der Geschichte in Bonn zur Verfügung gestellt.
Am Tag darauf hatte Portugal in Gelsenkirchen die besseren Elferschützen als die Engländer, die ab Rot für Wayne Rooney mit zehn Mann 59 Minuten lang das 0:0 hielten. Auffälligster Spiele: Owen Hargreaves, der beste Freund von Rapids Kapitän Steffen Hofmann seit Nachwuchszeiten bei Bayern München, der Taufpate seiner ältesten Tochter. Kein Zufall, dass er der einzige Engländer traf. Frank Lampard, Steven Gerrard und Jamie Carragher vergaben. Cristiano Ronaldo verwandelte den entscheidenden für Portugal. Gelang ihm auch ein Jahrzehnt später in einem Champions League-Endspiele für Real Madrid. Ohne Elferschießen eliminierte Frankreich danach Titelverteidiger Brasilien mit 1:0. Frankfurt war ein goldener Boden für die Franzosen. Auch weil Ronaldo nur noch ein müder Abklatsch des Superstars von 2002 war. „Bild“ nannte die Statistiken des Stürmers spöttisch „Stehtistik“.
Löw wartete vor dem Semifinale gegen Italien in Dortmund wieder mit einem schlagzeilenträchtigen Spruch auf: „Weltmeister sind wir schon, jetzt können wir noch Europameister werden.“ Weil die Europäer schon unter sich waren. Fast hätte sich Deutschland wieder in seine Domäne Elferschießen gerettet, aber eine Minute vor Ende der Verlängerung traf Italiens Linksverteidiger Fabio Grosso vom FC Palermo, den vor der WM außerhalb Italiens kaum einer kannte, aus zwölf Metern ins lange Eck, in der Nachspielzeit des Nachspiels machte Alessandro Del Piero Deutschlands 0:2 perfekt, Die Italiener steckten auch das gellende Pfeifkonzert von den Rängen, das ertönte, sobald sie am Ball waren, weg. Ein lauteres habe ich zuvor und danach nie wieder gehört. Auch selten ein größeres Chaos erlebt: Keine freien Taxis. Weder am Stadion noch am Bahnhof. Nach zwei Stunden setzte ich mich an einer Kreuzung in eines mit nur einem Fahrgast, sagte dem Lenker: „Fahren Sie mit dem an sein Ziel und dann mit mir weiter!“ Die Antwort war ein Stöhnen: „Na dat is ne Nacht. Wie sonst nur Silvester.“ Um halb fünf Uhr früh war ich via Castrop Rauxel im Hotel.
„Deutschland kann stolz sein“ sagten Klinsmann und Löw. Keiner widersprach. Das 3:1 im Spiel um Platz drei gegen Portugal in Stuttgart mit Kahn im Tor war das größere Fußballfest als das Endspiel zwischen Italien und Portugal-Bezwinger Frankreich in Berlin. Löw gab beim letzten WM-Interview Österreich mit auf dem Weg zur Heim-EURO: „Habt´Mut zur Offensive. Gutes Teamwork ist überall möglich. Nehmt Euch die Schweiz als Vorbild, Die arbeitet noch immer strukturierter als Österreich.“ Es gab keine Anzeichen, dass er vom bevorstehenden Rückzug von Klinsmann wusste und dass er vom Assistenten zum Chef befördert wird. Das Finale in Berlin sorgte für den zweiten Weltmeister, der im Elferschießen gekürt wurde. Passte zu der Weltmeisterschaft. Das war Italien. Zidane sorgte im letzten Match der Karriere für Frankreichs schnelle Führung aus einem Elfer, die Italiens Innenverteidiger Marco Materazzi bald ausglich. Nach 110 Minuten ging Zidane nach einem Wortgefecht der Torschützen auf Materazzi zu, ließ einen Kopfstoß gegen die Brust folgen. Sein bis heute berühmter Ausraster. Der vierte Referee aus Spanien sah auf einem TV-Monitor an der Mittellinie den Eklat, meldete ihn via Funk an den Linienrichter, der den Referee anpiepste. Horacio Elizondo aus Argentinien zückte nach Besprechung mit dem Linienrichter Rot. War eigentlich der erste Videobeweis bei der WM. Zwölf Jahre, bevor es ihn offiziell gibt.
Das Elferschießen gewann Italien 5:3, Lippi rauchte genüsslich eine Zigarillo (Bild), als ihm Kapitän Gianluigi Buffon (Bild) den WM-Pokal brachte. Ganz Italien danach im Jubelrausch über seinen vierten WM-Titel. Eine der ersten Konsequenzen: Die Bekanntgabe der Urteile im Skandal um Juventus und Milan wurde verschoben, der Innenminister rief zur Generalamnestie auf. Der WM-Titel war die einzige Chance, alles zuzudecken,
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Foto: © FIFA (Getty Images).