Fußball

Viel Pressing und zu wenig Fußball beim Glückssieg: Ein Abend zum Nachdenken

Die Fantribüne im ausverkauften Linzer Stadion stimmte „Oh, wie ist das schön, so was hat man lange nicht gesehen“-Gesänge nach dem späten Siegestor Österreichs zum glücklichen 2:1 (0:1)-Pflichtsieg im zweiten Heimspiel der EM-Qualifikation an. Es fehlte gar nicht so viel und man hätte sagen können, so was hat man noch nie gesehen. Nämlich keinen österreichischen Heimsieg gegen eine Mannschaft, die nicht zu den ersten 100 der Weltrangliste gehört. Dazu fehlten inklusive Nachspielzeit nur sechs Minuten. Und deshalb muss trotz Happy End und der Hoffnung von Teamchef Ralph Rangnick, dass so etwas zusammenschweißen kann, der Zittersieg ein Anlass zum Nachdenken sein. Nämlich ob die eingeschlagene Richtung des Teams wirklich die einzig erfolgversprechende ist oder ob man nicht doch vielleicht etwas korrigieren sollte.

Gernot Trauner fiel wegen Knieproblemen aus, Marcel Sabitzer saß auf der Bank. Doch sein Einsatz konnte wegen seines geschwollenen Knies kein Thema sein.  Mit ihm, Philipp Lienhart, Max Wöber, Xaver Schlager und Marko Arnautovic fehlen doch fünf, die zur Kategorie Stammspieler gehören. Das darf daheim gegen Estland aber wirklich keine Rolle spielen. Mit Saliternana-Legionär Flavius Daniliuc begann im Abwehrzentrum der sechste Debütant der Ära Rangnick, Dejan Ljubicic spielte beim zehnten Spiel Rangnicks zum zweiten Mal von Beginn an. Beide wurden zur Pause ausgetauscht. Ljubicic verlor vor Estlands überraschender Führung ein Kopfballduell. Das war ein Grund für Estlands Führung. Ein zweiter: Nicolas Seiwald und Christoph Baumgartner behinderten sich. Der dritte: Die Abwehr war nach einem Freistoß von der Mittellinie schlecht positioniert. Österreich hatte Überzahl im eigenen Strafraum, geriet aber in Rückstand. Das darf ebenso nicht passieren, wie die spielerischen Leerläufe.

David Alaba kam zur zweiten Hälfte statt Daniliuc, etwas früher als ursprünglich geplant. Aber mit ihm hatte die Mannschaft etwas, was zuvor fehlte: Einen Chef, der die Mitspieler einteilte. Es stimmt schon, dass Österreich noch ohne Alaba nach 17 Minuten bei seinen drei Chancen das Match hätte entscheiden können. Aber die erste entstand durch ein Missgeschick von Estlands Tormann Karl Hein, der knapp über (!) der Mittellinie Patrick Wimmer anschoss und dem freie Bahn verschaffte. Wimmer traf nichts ins leere Tor. Die zweite, die Baumgartner ausließ, entstand nach einem Freistoß. Die dritte als einzige durch eine schöne Kombination, bei der Michael Gregoritsch im Strafraum gefoult wurde. Er traf beim Elfmeter nur die Latte. Auch drei Tage zuvor ließ er beim 4:1 gegen Aserbaidschan seine erste Chance aus. Auch die Zweite. Traf nur wenige Minuten später. Gegen Estland musste er 71 Minuten warten, bis er sich erlöste und jubelte. Dazu gehörte Glück. Seine Schuss nach 88 Minuten hätte vermutlich nicht das 2:1 bedeutet, aber er wurde von Estlands Abwehrchef Karol Mets noch abgefälscht.

Der zweite Wechsel zur Pause, Junior Adamu als zusätzlicher Stürmer für Mittelfeldspieler Ljubicic, bewirkte wenig. Der dritte Joker stach: Florian Kainz erzielte mit seinem ersten Tor im Team sechs Minuten nach der Einwechslung den Ausgleich, als er mit rechts nach einem von Tormann Hein in die Mitte abgewehrten Schuss von Stefan Posch, der phasenweise viel zu lethargisch wirkte, traf. Mit Kainz kam mehr Linie ins Spiel. Das zu sehr auf Vollgas und Pressing ausgerichtet ist, zu wenig auf Fußball und Kreativität. Die fehlt gegen Mannschaften, die tief verteidigen. Die kann es nicht geben, wenn im 4-3-3 der Startelf im Mittelfeld mit Konrad Laimer, Seiwald und Ljubicic drei ähnlich gewartete Typen agieren. Daher entstehen zu wenig Ideen, die den Gegner überraschen, durch die Chancen kreiert werden. Etwas weniger Pressing, etwas mehr Fußball – das müsste nach dem Estland-Spiel schon eine Überlegung wert sein. Ebenso, dass Baumgartner als offensiver Mittelfeldspieler mehr helfen kann als an vorderste Front.

Wenn man an die Juni-Spiele denkt, muss man aus den Erfahrungen der ersten zwei Heimsiege fast annehmen: Österreich wird mit „Laufwundern“ wie Laimer, Seiwald und Schlager, wenn er bis dahin wieder fit ist, den belgischen Stars das Leben schwer machen können, aber Probleme haben, gegen Schweden im Happel-Stadion selbst das Spiel zu machen. Daher gilt es, über Änderungen nachzudenken. Die erhoffte Euphorie schafft man mit Leistungen wie gegen Estland sicher nicht. Schweden bezwang ohne Zlatan Ibrahimovic in Stockholm Aserbaidschan 5:0 (1:0), also höher als Österreich drei Tage zuvor in Linz. Die letzten drei Treffer fielen erst in den letzten elf Minuten, das letzte durch Anthony Elanga, einen ehemaligen Schützling von Rangnick bei Manchester United. Interessant wird Dienstagabend der Test von Österreichs nächstem Gegner Belgien in Köln gegen Deutschland. Vom deutschen Teamchef Hansi Flick wurde Montag bestätigt, dass Deutschland am 21. November in Österreich gastieren wird. Das wird wohl im Wiener Happel-Stadion über die Bühne gehen.

 

Foto: ÖFB/Christopher Kelemen.

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